Zum 24. Mal fand das Brillux Architektenforum mit erneut sehr guter Resonanz statt und bestätigte damit seine Funktion als anerkannte Dialogplattform für Architekten. Unter dem Titel "Stolz und Vorurteil" widmete sich die Veranstaltung dem Zusammenspiel von Tradition und Fortschritt in der Architektur. Hochkarätige Referenten stellten anhand ihrer eigenen Ansätze und Projekte unterschiedliche Betrachtungen zu dem Thema zur Diskussion. Zusätzlichen Informationsstoff zur zeitgenössischen Architektur- und Rekonstruktionsdebatte gab es auch bei den geführten Architekturexkursionen zu Stadtquartieren und Bauprojekten in Hannover.
Beim Brillux Architektenforum, das im Schloss Herrenhausen stattfand, wurden gleich drei Komponenten miteinander verbunden: der Veranstaltungsort als Impulsgeber, die Referenten als Vordenker und die thematischen Exkursionen zum realen Erleben von Architektur. So konnte eine rege Architekturdebatte angestossen werden, die gewohnt souverän von Burkhard Fröhlich, ehemaliger DBZ-Chefredakteur, Bauverlag BV GmbH, Gütersloh, moderiert wurde.
Zum Auftakt der Veranstaltung gab es von Dr. Bernd Adam, Büro für Bauforschung in Garbsen, einen historischen Schnelldurchgang zur wechselvollen Geschichte von Schloss Herrenhausen. Der 2012 fertiggestellte Neubau folgt in seiner heutigen äusseren Anmutung dem klassizistischen Vorbild des ehemaligen Sommerschlosses der Welfenfamilie – im Inneren dagegen ist aus dem Lustschloss des Adels ein modernes, multifunktionales Tagungszentrum geworden.
Nie wurde so viel gebaut wie heute, nie standen der Architektur so viele technische und gestalterische Möglichkeiten zur Verfügung. Und doch gibt es ein allgemeines Unbehagen an der zeitgenössischen Architektur. Genau damit beschäftigte sich Sergej Tchoban, TCHOBAN VOSS Architekten, Hamburg Berlin Dresden, in seinem Vortrag. Er zeigte auf, was die Gegenwartsarchitektur berücksichtigen muss, um ein harmonisches Gesamtbild in Städten zu entwickeln. Dazu stellte er ein Verhältnis von 30:70 imposanter Bauten zu namenloser Hintergrundarchitektur zur Diskussion. "Wir müssen es schaffen, wieder massive, monolithische Wände mit geschmückten Oberflächendetails zu bauen, die sich bis ins Gebäudeinnere wiederfinden, ohne historisch zu sein."
Auch der Architekt Prof. Dr. Paul Kahlfeldt, Berliner Architektenbüro Petra und Paul Kahlfeldt, übte Kritik an der heutigen Architektur: Wie sein Vorredner forderte er von den Architekten ein stärkeres Bewusstsein für bauliche Aufgaben sowie für ihre gesellschaftliche und soziale Verantwortung. Polarisierend differenzierte Kahlfeldt zwischen Gebäuden und Architektur, zwischen Fastfood und Essen, zwischen Turnschuhen und Bekleidung. Architektur sei nicht unbedingt bewohnbar, wohingegen es sich in einem handwerklichen Gebäude wunderbar leben liesse, auch ohne die "kulturelle Steigerung" Architektur. Kahlfeldt plädierte dafür, schöner zu bauen, "damit unsere Enkel die Häuser nicht abreissen!"
Zum Abschluss gab Dr. Christian Bergmann vom Hamburger Architekturbüro Hadi Teherani profunde Einblicke in den ganzheitlichen Entwurfsanspruch des Büros, der von der Architektur bis hin zum Produktdesign reicht. Dabei ginge es neben der Funktion um die Form, um Emotionen und Identität. "Identitätsstiftende Gebäude verlangen eine eindeutig definierte, anschauliche Architektur, die funktionale Vorteile mit emotionaler Ausstrahlung zusammenbringt", so Bergmann.
Eine willkommene Unterbrechung zwischen den beiden Vortragsblöcken waren die geführten Exkursionen: Diese ermöglichten, häufig nur schwer zugängliche Bauprojekte und Bauaufgaben im direkten urbanen Kontext vorgestellt zu bekommen.
Die Teilnehmer konnten zwischen sechs thematischen Touren wählen: Dazu gehörten die Arbeiterquartiere Herrenhausen, Leinhausen und Stöcken, das Stadtquartier Hainholz, die Nordstadt und das Areal rund um den Klagesmarkt, die Altstadt Hannovers, das Zooviertel und der Stadtteil Linden.
Die Teilnehmer der Zooviertel-Tour hatten beispielsweise die Gelegenheit zu einem exklusiv geführten Rundgang durch das mehr als 100 Jahre alte Congress Centrum (HCC). Vor Ort konnten sie sich dabei einen Eindruck von der neuen Optik und Bestuhlung sowie von der optimierten Beleuchtung und Akustik machen.
Darüber hinaus erfuhren sie historische und bauliche Details zu dem nach mehr als 50 Jahren freigelegten und zum Teil rekonstruierten Relief an den Wänden. Lutz Wohlers, Leitung Gebäudemanagement, lieferte dazu die Hintergrundinformationen und Fakten der Schwerpunktrenovierung. "Der mit 3.600 Plätzen grösste klassische Konzertsaal Deutschlands ist nun wieder auf der Höhe der Zeit", hob Lutz Wohlers hervor. "Damit bleibt Hannover in der Champions League der Konzertsäle."
Mit einem Get-together fand die Veranstaltung ihren Abschluss und ermöglichte den Teilnehmern und Referenten, den informativen wie anregenden Gedankenaustausch in entspannter Atmosphäre fortzusetzen.
Bernd Adam studierte Architektur in Hannover und promovierte 2003 mit einer Arbeit zur Architektur des 17. und 18. Jahrhunderts in Norddeutschland. Neben seiner Hochschultätigkeit an der HAWK Hildesheim, der Universität Dortmund und der Leibniz Universität Hannover ist er seit 1990 als freiberuflicher Bauforscher tätig.
Seine langjährige Erfahrung sowie zahlreiche Veröffentlichungen zur historischen Bautechnik, zur Geschichte des Architektenberufs, zur Architektur des 17. und 18. Jahrhunderts sowie zur regionalen Baugeschichte machen ihn zu einem ausgewiesenen Experten in seinem Gebiet. Beim Herrenhäuser Schloss erarbeitete Dr. Bernd Adam die Rekonstruktion, die beim Neubau für die äußere Erscheinung zugrunde gelegt wurde.
Foto: Dr. Bernd Adam
Sergei Tchoban (geb. 1962 in Sankt Petersburg) ist ein international tätiger deutsch-russischer Architekt. Er ist geschäftsführender Partner des Büros TCHOBAN VOSS Architekten in Berlin sowie Geschäftsführer des Architekturbüros SPEECH in Moskau.
Nach seinen Entwürfen entstanden deutschland- und russlandweit zahlreiche international anerkannte Gebäude und bauliche Ensembles, darunter der Federation Complex in Moskau oder das Museum für Architekturzeichnung in Berlin. 2010 und 2012 kuratierte Tchoban den Russischen Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig und war 2015 Architekt des Russischen Pavillons auf der EXPO in Mailand.
Er ist Gründer der ersten Biennale für junge Architekten in Russland und Juryvorsitzender sowie -mitglied bei zahlreichen internationalen Architektur- und Zeichenwettbewerben. In dem im Verlag DOM Publishers herausgegebenen Buch "Architektur als Balanceakt" setzt Sergei Tchoban sich intensiv mit dem Verhältnis der Architektur-Monumente zur breiten Masse des Gebauten auseinander.
Foto: Holger Talinski
Paul Kahlfeldt studierte an der TU Berlin Architektur und promovierte 2004 an der TU Delft. 1987 gründete er gemeinsam mit Petra Kahlfeldt das Büro in Berlin mit aktuell zwei Standorten. Von hier werden Bauvorhaben in Deutschland und im Ausland betreut.
Die Formensprache des Büros bezieht sich in vielen Projekten auf klassische, historische Vorbilder. Der Respekt vor dem Bestehenden spiegelt sich in der Sanierung und der Umnutzung zahlreicher, teils denkmalgeschützter Kultur- und Gewerbebauten wider. Beispielhaft dafür ist die Koordination der baulichen Wiederherstellung des Festspielhauses Hellerau in Dresden.
Seit 2005 hat Paul Kahlfeldt eine Professur für Grundlagen und Theorie der Baukonstruktion an der Technischen Universität Dortmund inne. Er engagiert sich in zahlreichen Beiräten und Verbänden, unter anderem im Werkbund sowie der Internationalen Bauakademie Berlin.
Foto: Paul Kahlfeldt
Die Arbeit von Hadi Teherani – 1954 in Teheran geboren, aufgewachsen in Hamburg – ist in jeder Beziehung grenzüberschreitend, jenseits von Nationalitäten und Fachdisziplinen. Das Büro hat neben Hamburg Standorte in Dubai, Abu Dhabi, Bangalore sowie Teheran. Die Projekte zielen auf atmosphärische Ausstrahlung, emotionale Eindringlichkeit und eine ökologisch fundierte Nachhaltigkeit.
Internationale Auszeichnungen dokumentieren die Gleichrangigkeit von Architektur, Produkt- und Interieur-Design. Der erste "grüne" Bahnhof Deutschlands am Frankfurter Flughafen und die Kölner Kranhäuser am Rheinufer sind wie viele internationale Projekte zu weithin wirksamen Landmarken geworden. In den letzten Jahren sind vor allem innovative Konzepte für einen nachhaltigen, urbanen Wohnungsbau entwickelt und realisiert worden.
Foto: Roger Mandt
Aus der herrschaftlichen Sommerresidenz mit den historischen Gartenanlagen entwickelten sich Ende des 19. Jahrhunderts die Arbeiterquartiere Herrenhausen, Leinhausen und Stöcken. Diese Viertel der Bahner, der Conti-, Varta-, später der VW-Arbeiter unterlagen in den letzten zehn Jahren einem stetigen Wandel.
Mit neuen, inklusiven Wohnbauten und hochwertigen Umbauten, die die vielseitige Geschichte der Stadt und ihre Erinnerungskultur sichtbar werden lassen, rücken diese Stadtteile immer stärker an die Kernstadt heran.
Foto: Roland Halbe Fotografie
Ein ganzer Stadtteil ist in Bewegung geraten. Es ist Aufbruchstimmung zu spüren. Hainholz ist mit der "Neuen Mitte Hainholz" ein Ort für alle geworden. Mit behutsamen, einfachen und unspektakulären Mitteln wurde ein Stück Stadtraum wiedergewonnen, der über viele Jahre sich selbst überlassen war, dem Gestalt und Nutzung sowie die soziale Kontrolle fehlte.
Die Entscheidung, die vor Jahrzehnten gefasste Planungsidee einer breiten Verkehrsstraße – die Nordtangente – fallen zu lassen und diese nicht zu realisieren, machte den Weg frei für eine Neubestimmung des Stadtquartiers Hainholz. Die Bewältigung dieser Aufgabe wurde zu einem finanziellen und personellen Gemeinschaftsprojekt.
Foto: Fotografie Frank Aussieker
Die Nordstadt und das Areal rund um den Klagesmarkt sind erst seit der Expo und der Umgestaltung des Engelbostler Damms als qualitätvolle Innenstadtlagen wahrgenommen worden. Heute ist die Mischung aus alten Industrie- und Gewerbeanlagen längs der Bahnstrecke zwischen den Conti-Werken, dem Sprengelgelände und der Leibniz-Universität am Königsworther Platz bis hin nach Herrenhausen ein beliebtes und buntes Stadtquartier für alle Generationen. Die Bebauung des Klagesmarktes setzt ein Zeichen für die lang ersehnte enge Verbindung zur Stadtmitte.
Foto: Olaf Mahlstedt Photographie
Die gesamte Altstadt von Hannover wurde Opfer des Flammenmeers im Zweiten Weltkrieg. Zwischen 1940 und 1962 gab der Architekt Dieter Oesterlen mit markanten Bauten wie der Marktkirche, dem Historischen Museum und dem Landtag der ehemaligen, idyllischen Fachwerkstadt ein neues Gesicht. Neben Kunst, Kultur, Geschichte und Politik prägen heute Bildungs- und Wohnbauten sowie die Umgestaltung des Hohen Ufers das Herzstück der historischen Mitte von Hannover.
Foto: Joachim Grothus für blocher partners
Das Zooviertel Hannovers, am Rande von Europas größtem Stadtwald gelegen, besitzt durch die großzügige Stadtvillenstruktur eine besondere Prägung und eine hohe Wohnattraktivität. In unmittelbarer Nachbarschaft liegen der Zoo Hannover und das Hannover Congress Centrum (HCC), das als zentraler Ort für Großveranstaltungen dient.
Mit dem Bau der Stadthalle durch das Stuttgarter Büro Bonatz & Scholer erhielt dieses Stadtquartier 1914 ein signifikantes Wahrzeichen. Der zentrale Kuppelsaal nach dem Vorbild des Pantheons wurde nach Beschädigungen im 2. Weltkrieg zunächst noch unter Beteiligung von Paul Bonatz provisorisch wiederhergerichtet und Anfang der 1960er-Jahre durch den Architekten Ernst Zinsser als Konzert- und Festsaal neu interpretiert. Neben der Sanierung und Modernisierung dieser historischen Bausubstanz erfuhr auch das umgebende Wohnviertel bauliche Erweiterungen.
Foto: Fotografie Frank Aussieker
Die Alteingesessenen nennen sich "Lindener Butjer", vom niederdeutschen buten, was so viel wie draußen heißt. Sie sind stolz darauf, nicht so richtig zu Hannover zu gehören. Linden galt mal als Preußens größtes Dorf, war Industriestandort und Arbeiterviertel. 1885 wurde es eine eigene Stadt und erst 1920 nach Hannover eingemeindet.
In den 1960er-Jahren kamen die Gastarbeiter, in den 1980er-Jahren die Studenten, denn hier war der Wohnraum noch günstig. Linden ist bis heute eine städtische Insel. Längst sind die Industriegebäude wie das Schlachthofgelände der Firma Ahrberg und das große Gelände der Hanomag-Werke umgebaut und die rauen Fabriktage modernen Lofts zum Wohnen und Arbeiten gewichen.
Foto: Fotografie Frank Aussieker